Rippers - 1895
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 Vorgeschichte - Boston November 1894

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Laura
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BeitragThema: Vorgeschichte - Boston November 1894   Vorgeschichte - Boston November 1894 I_icon_minitimeSa Sep 23, 2017 11:16 pm

I

Der Geruch des Leichenhauses war auch nach all den Jahren nichts woran sich Detective Barnes jemals würde gewöhnen können. Es waren nicht so sehr die Leichen. Barnes erinnerten sie stets daran wie es im Schlachthof seines Großvaters manchmal zugegangen war und in seiner Zeit bei der Polizei hatte er auch schon weit schlimmeres gesehen. Aber Professor Goldsteen, der Coroner, hatte diese ekelhafte Vorliebe für indische Räucherstäbchen. Und so mischten sich in der Leichenhalle der Medical Society von Boston stets schwerer Moschus mit modernden-

“Mrs Finnigan, ich bin fertig!”

Jane legte den Füllfederhalter bei Seite. Bedauernd schob sie das Papier unter einen Stapel Hefte, die sie am Ende der Stunde eingesammelt hatte und sah auf. Vor dem Pult stand ein etwas zehnjähriger Junge mit strohblondem ungewaschenem Haar. In seinen nicht weniger dreckigen Händen hier er einen Schreibblock. Als Jane die Hand danach ausstreckte, reicht er in ihr widerwillig.

Es war nur eine einfache Abfrage von Jahreszahlen des Sezessionskriegs gewesen, ein Thema, das jedoch stets mit besonderer Umsicht zu behandeln war. Schweigend überflog Jane rasch die Antworten. Als sie geendet hatte, nickte sie zufrieden und reichte dem Jungen den Block zurück.

“Sehr gut, Tom”, sagte Jane und schenkte dem Jungen ein seltenes Lächeln. Mit auf dem Tisch gefalteten Händen fuhr sie dann in strengerem Ton fort. “Jetzt wüsste ich aber noch gerne warum du die Arbeit nicht bereits heute Morgen zur Hand gehabt hast? Das war bereits das vierte Mal in diesem Monat und das ist doch sonst nicht deine Art.”

Der junge Tom hatte die Hände tief in den Taschen seiner schmuddeligen Hose vergraben.

“Hab’s halt vergessen”, lautete die undeutliche Antwort.

“Das glaube ich nicht”, seufzte Jane leise. Sie stand auf, strich unwillkürlich den Rock glatt und ging um das Pult herum. “Tom, du bist klug, fleißig und warst bis vor ein paar Wochen auf dem besten Weg unsere Schule beim Buchstabierwettbewerb zu vertreten. Ich wüsste also gerne, was in letzter Zeit mit dir los ist.”

“Nichts, Ma’am.”

Jane strich sich nachdenklich über die Stirn wo sie ein leichtes Ziehen verspürte. Sie wusste, dass der Junge log.

Ratlos wandte sie den Blick von Tom O’Connor ab. Die Uhr an der Wand in ihrem Klassenzimmer zeigte bereits kurz nach drei Uhr Nachmittags. Sie hatte Tom eine Stunde länger hier behalten damit er die unerledigten Hausaufgaben nachholen konnte. Auch Tom sah immer wieder zur Uhr hinüber, wenn er glaubte, dass sie vielleicht gerade nicht hinsah. Der Junge war einer ihrer Lieblingsschüler. Natürlich sollte kein Lehrer Schüler bevorzugen und Jane gab sich da auch stets die größte Mühe. Aber sie hatte auch früh gelernt, dass man halt einfach manche Kinder mehr, die anderen weniger gut leiden konnte.

Seufzend verschränkte Jane die Arme vor der Brust und musterte den Jungen. Tom hatte den Blick auf seine Schuhspitzen gesenkt.

Er ist stiller als sonst, dachte Jane. Abgesehen davon, dass häufig arbeiten fehlten, hatte sie den Jungen auch öfter zu einer Antwort aufrufen müssen. Normalerweise war Tom rege im Unterricht beteiligt, solange sie nicht über Geographie sprachen.

Sie fragte sich, was es war, dass den Jungen so beschäftigte und dafür gesorgt hatte, dass seine Arbeit in letzter zu wünschen übrig ließ.

Es war still im Klassenzimmer. Von Weitem klang der raue Husten einer Frau herüber.

“Tom, wie geht es deiner Mutter?”

Der Junge sah zu ihr auf die großen blauen Augen weit geöffnet. Jane bemerkte, dass es sich offenbar auf die Wange biss. Als die erste Träne über seine Wangen lief, hatte Jane sich schon zu ihm hinunter gekniet und Tom kurz, aber fest in den Arm genommen.

Eine halbe Stunde später schloss Jane die Tür des Klassenszimmers hinter sich ab und winkte Tom nach der sich am Schultor noch einmal zu ihr umgedreht hatte, ein Lächeln auf dem Gesicht. Ab morgen würde er jeden Nachmittag zwei Stunden dem Hausmeister zur Hand gehen.

Die Schule beschäftigte häufig Kinder aus armen Familien für einige Wochen wenn das Geld zu Hause knapp wurde. Und das konnte so schnell geschehen. Ein Vater der einmal zu oft betrunken auf der Arbeit erschienen war; eine Mutter die länger als geplant das Wochenbett hütete; Zwillingsgeburten oder eben Krankheit. Es gab viel was einer Familie das Genick brechen konnte und dann wurde jede Hand gebraucht. So verschwanden immer mal wieder Kinder aus den Klassen und viele kamen, wenn sie erst einmal in einer Näherei oder im Hafen gelandet waren, auch nicht wieder zurück. Also war es besser, wenn man ihnen gleich hier in der Schule helfen konnte. Wo sie hin gehörten.

Es wäre eine Schande um Tom, dachte Jane. Sie hatte einige Schüler wie ihn gehabt. Begabte Kinder, denen es einfach zu häufig an Möglichkeiten fehlte etwas aus ihrem Leben zu machen. Sicher, da waren die Stipendien aber viele schafften es gar nicht den zusätzlichen Nachmittagsunterricht zu besuchen der nötig war um an einem der Colleges aufgenommen zu werden. Die Kinder wurden zu Hause gebraucht.

Mit den Gedanken bei ihrem Schüler, noch hin und her überlegend, ob sich nicht doch vielleicht ein wenig mehr tun konnte, ging Jane zu dem alten windschiefen Schuppen hinüber und schob ihr Rad heraus. Die Bücher und Hefte die sie mit nach Hause nehmen wollte, steckte sie behutsam in den Korb, den David zu diesem Zweck an ihrem Lenkrad angebracht hatte. Umständlich hob Jane ihre Röcke an und stieg auf.


Es war Anfang November und auch wenn noch kein Schnee gefallen war, hatte der Winter Boston bereits fest in seinem Griff. Die Straßen waren morgens bereits gefährlich glatt. Um ein Haar wäre Jane vor zwei Tagen morgens im Halbdunkeln bereits mit Milchdroschke zusammengestoßen. Aber noch hatte es nicht geschneit. Früher als unbedingt notwendig würde Jane die tägliche Radfahrt nicht gegen einen langen Fußmarsch eintauschen. Mit dem Rad war die Strecke in etwas weniger als einer halben Stunde gut zu schaffen.

Jane hatte die McBride Street bereits ein gutes Stück hinter sich gelassen und bog wie jeden Freitag zu einem kleinen Umweg in die Newbury ab. Ihr Ziel war ein furchtbares rotes Backsteinhaus im modernen Stil wie man es aus New York kannte. Einige paar Minuten später verließ Jane das Bürogebäude schon wieder, einen kleinen Stapel sorgsam zusammengeknoteter Umschläge in der Hand, die sie umsichtig zu den Schulsachen in den Korb legte.

Als sie in die Neptune Road einbog, war Jane in Gedanken schon bei den Briefen die sie gerade abgeholt hatte. Ein besonders großer Umschlag aus braunem Packpapier kam aus London. Der Poststempel war gut zu erkennen und zog Janes Blick magisch an.

72 High Street, Kensington - London

Sie konnte es kaum erwarten den Brief zu öffnen und zu sehen, ob er das enthielt worauf sie seit Monaten hingearbeitet hatte. Wenigstens haben sie meinen Entwurf nicht zurückgeschickt, dachte Jane nüchtern. Dann hätte der Umschlag um einiges dicker sein müssen. Aber jetzt da sie beinahe an ihrem Haus angelangt war, forderten ihre Nachbarinnen Janes Aufmerksamkeit. Für jeden Gruß hatte sie wenigstens eine freundliches Lächeln und eine kurze Erwiderung übrig. Man lief sich wenigstens einmal in der Woche in der Kirche oder nach der Sonntagschule über den Weg. Einige der Mütter nahmen sogar am Teekreis für progressive Erziehung teil, den Jane selbst mühsam ins Leben gerufen hatte. Mittlerweile erfreute sich die Zusammenkunft sogar einiger Beliebtheit, zumindest unter den jungen Müttern des Viertels. Und sie hatten tatsächlich neue Mitglieder bekommen.

“Ich verstehe nicht, warum du deine Nachmittage damit verbringen möchtest alten, störrischen Frauen die Wohnzimmertüre einzurennen in der Hoffnung sie würden dir zu hören und ihre Mädchen auf die höhere Schule schicken”, hatte ihre Schwägerin Catherine ihr mehr als einmal vorgehalten. “Vielleicht solltest du lieber einmal Mutter werden, ehe du anfängst andere Mütter zu belehren.” Ein Stich, den Jane nur zu gut verstanden hatte. Denn sie und David waren jetzt über fünf Jahre miteinander verheiratet.

Seufzend brachte Jane das Rad vor ihrem Haus zum Stehen. Das war kein Thema über das sie sonderlich gerne nachdachte. In all den Jahren war Jane nur einmal schwanger geworden und hatte das Kind bereits nach wenigen Wochen verloren. Nichts worüber man sich Gedanken machen musste, hatte ihre Mutter versichert. Natürlich war Jane traurig gewesen, aber irgendwie auch erleichtert. Dafür hatte sie sich immer schuldig gefühlt. Sie hatte sich damals noch nicht bereit gefühlt und heute war es nicht anders. Viele der Absolventinnen aus ihrem Jahr hatten nach dem Abschluss begonnen als Lehrerinnen zu arbeiten. Und beinah ebenso viele hatten bereits nach einem Jahr oder zwei Jahren dem Schulhaus auch schon wieder den Rücken gekehrt, weil sie ein Kind erwarteten. Insgeheim fragte Jane sich häufig, ob sie es nicht vielleicht bereuten. Aber sie hatte bisher nicht den Mut gehabt auch nur einer alten Schulfreundin diese Frage zu stellen.

“Es ist ja nicht so, dass du keine Kinder willst”, murmelte Jane zu sich selbst, während sie das Rad hinter das Haus in den kleinen Garten schob. “Nur eben noch nicht jetzt.”


Die Hintertür war nicht verschlossen. Den Arm voller Hefte und Bücher trat Jane in die kleine, saubere Küche.

Ein dumpfer Schmerzenschrei ließ sie zusammenschrecken. Verwirrt sah Jane sich um. Die Tür zur Abstellkammer stand auf.

“David?”, fragte sie besorgt.

“Alles in Ordnung.”

“Was treibst du denn da?”

“Na was schon, ich bringe die neuen Regalböden an um die du mich vor einigen Wochen gebeten hast.”

Janes Mundwinkel zuckten. Einige krumme Nägel lagen auf dem Küchentisch und der Boden war voller Holzspäne.

“Wenn ich mich recht erinnere”, sagte sie und legte dabei den Papierstapel vor sich ab. “war das deine Idee.”

“Tatsächlich?”

“Allerdings”, murmelte Jane.

Aus der Kammer drang jetzt lautes Hämmern. Die Tür war leicht angelehnt. Offenbar hatte David eine der Gaslaternen mit hineingenommen. Verwundert fragte sie sich, warum er nicht einfach die Tür weit aufgelassen hatte. Das Licht aus der Küche genügte ihr immer vollkommen, wenn sie versuchte die Schrift ihrer Mutter auf einem der vielen Gläser mit eingemachtem Obst und Gemüse zu erkennen.

Als David nach wenigen Minuten den Kopf aus der Tür steckte, war der Küchenboden wieder sauber. Er warf dem Besen einen betretenen Blick zu und sah dann zu seiner Frau, die zur Antwort nur eine Augenbraue hob.

Rear Admiral David Finnigan war groß und von eher schlaksiger Statur. Aber die Jahre auf See hatten seine Spuren hinterlassen. Er war kräftig und gut trainiert. Sein Haar war dunkelbraun und zu Janes Freude trug er im Gegensatz zu vielen seiner Kameraden keinen Bart.

Die Ärmel seines weißen Hemdes waren bis über die Ellenbogen hochgekrempelt. Darüber trug er eine Weste und das unverkennbare Halstuch aus dunkelblauem Stoff. Mochte David auch noch so zivil gekleidet sein, das Halstuch legte er nie ab.

“Du bist spät heute”, sagte David und kam herüber um seiner Frau einen flüchtigen Kuss auf die Wange zu geben.

“Ich musste einen Schüler nach dem Unterricht noch für einige Aufgaben länger da behalten.”

“Ich hoffe er hatte es wenigstens verdient”, bemerkte David mit einem Grinsen. Dann begann er das Werkzeug zusammenzuräumen.

“In gewisser Weise”, antwortete Jane ausweichend.
Sie wollte nicht wieder an Tom O’Connor denken. Es bedrückte sie zu sehr. Stattdessen ging sie hinüber in den Flur und legte vor dem Spiegel Hut und Mantel ab. Auf dem Holztisch im Esszimmer bemerkte sie Davids Waffe die neben einem guten Dutzend neu aussehenden Patronenschachteln lag.

Neugierig hob Jane eine der Schachteln hob und drehte sie in der Hand. Ein metallisches Klicken verriet, dass einige Patronen fehlen musste. Sie war den Umgang mit Pistolen durchaus gewohnt. Ihr Vater hatte nichts davon gehalten, aber David hatte ihr und Catherine schon während ihrer College Zeit beigebracht damit umzugehen. Ein herrlich verbotenes Vergnügen waren diese kleinen Ausflüge gewesen.

“Leg das bitte wieder hin, Beth.”

David war ihr ins Wohnzimmer gefolgt und wischte sie die Hände an einem Tuch sauber. Mit gerunzelter Stirn tat Jane wie geheißen.

“Wozu all die Munition?”

“Einige der Altbestände im Magazin sollen in den nächsten Wochen erneuert werden und daher waren sie günstig zu bekommen.”

Er trat neben sie an den Tisch. Jane warf ihm einen argwöhnischen Blick zu.

“Aber musst du denn dann gleich genug Kugeln kaufen um einen Zug zu überfallen?”

David antwortete nicht direkt. Stattdessen nahm er seine Waffe vom Tisch und steckte sie ein. Die Falten auf Janes Stirn wurden ein wenig tiefer. Als er es bemerkte lächelte David und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

“Entschuldige. Ich weiß, dass du es nicht magst wenn ich die Sachen unbeobachtet herumliegen lasse.”

“Nein, ich mag es nicht”, sagte Jane nachdrücklich. Was wenn ihre Neffen zu Besuch wären und beim Spielen Waffe und Munition fänden. Also bewahrte David sowohl die Pistole der Navy als auch seine eigenen oben in seiner Seemannstruhe auf die man abschließen konnte.

Mit einem Lächeln sammelte David die Schachteln ein und ging nach oben.

Beunruhigt sah Jane ihm nach. Ihr war nicht entgangen, dass die Waffe geladen gewesen sein musste.

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BeitragThema: Re: Vorgeschichte - Boston November 1894   Vorgeschichte - Boston November 1894 I_icon_minitimeDi Sep 26, 2017 8:57 am

II

Draußen auf der Straße waren bereits die Gaslaternen entzündet worden. Bei weitem nicht alle Viertel von Boston wurden des Nachts erleuchtet. Aber das Haus der Finnigans lag in einer der besseren Gegenden.

Jane saß am Wohnzimmertisch über einen Stapel ordentlich nummerierte, dicht beschriebene Seiten gebeugt. Mit einem Bleistift strich sie immer mal wieder eines der Wörter durch. Winzige Anmerkungen waren an den Rand einer Seite geschrieben.

Als die kleine Tischuhr Mitternacht schlug, sah Jane zum ersten Mal seit beinah zwei Stunden von ihrer Arbeit auf. Wie leicht man die Zeit doch vergessen konnte, wenn man einmal wieder begonnen hatte zu schreiben. Wenn Jane sich in einer ihrer Geschichten verlor, vergaß sie all zu leicht alles um sich herum. Mit einem Seufzer stand sie vom Tisch auf und reckte sich ein wenig. Im Wohnzimmer stand ein Glasschrank, der das gute Gedeck mit den Rosenknospen beherbergte. Verschwommen konnte Jane ihr Spiegelbild darin erkennen. Das alte, bunte Schultertuch, das sie umgelegt hatte, war ein Geschenk von David gewesen. Er hatte es ihr vor einigen Jahren von einer seiner Fahrten mitgebracht. Ihr langes, haselnussbraunes Haar fiel weich und in sanften Wellen offen über ihren Rücken.

Natürlich konnte sie sich so etwas nur zu Hause erlauben, wo niemand es sah und missbilligen konnte. Jane kam sich dann gleich immer seltsam verjüngt vor. Mädchen trugen ihre Haare offen, Frauen nicht. Sie konnte sich noch daran erinnern wie stolz sie gewesen war als sie zum ersten Mal mit sechzehn Jahre das Haus ihrer Eltern mit einem eleganten Knoten im Nacken und dem darauf festgestecktem Hut verlassen hatte.

Unter all den Papieren die auf dem Tisch verstreut lagen, war auch der Brief aus London gewesen. Jetzt, da sie den Füller aus der Hand gelegt hatte, fiel er Jane auch wieder ein.
Ungeduldig legte sie die Papiere zusammen, schloss ein abstruses Buch über moderne Rechtsmedizin von einem Deutschen Arzt und begann danach zu suchen. Fast hätte sie die leere Kaffeetasse umgestoßen, so eilig hatte sie es.

Der Umschlag fand sich schließlich unter liegen gebliebener Handarbeit, die sie eigentlich heute Abend hatte erledigen soll.

Als Jane in in den Händen hielt, fühlte er sich furchtbar schwer an. Der Absender war gestempelt. Kein Zweifel was der Brief enthalten würde. Bei dem Gedanken wurde Jane übel und die Finger mit denen sie die Lasche des Umschlags betastet hatte, zitterten ein wenig. Verärgert über sich selbst schnaubte sie kurz auf.

Aber sie konnte den Brief jetzt einfach nicht aufreißen. Zu viel Hoffnung und harte Arbeit standen hier auf dem Spiel. Stattdessen räumte sie erst alles bei Seite und er als die Tasse abgespült war und die Mappe mit dem Manuskript im Sekretär verschwunden war, griff Jane wieder nach dem Umschlag.

Einen Moment starrte sie ihn unentschlossen an. Dann nahm sie ihn in die Hand und ging die Treppe hinauf. Die oberste Treppenstufe knarzte wie immer unangenehm laut.
Die Tür zu ihrem Schlafzimmer stand auf. Dort war es vollkommen dunkel. Aber aus dem Gästezimmer drang noch ein flackernder Lichtschein.

David saß an einem kleinen Tisch. Es war nicht ungewöhnlich, dass beide Finnigans manchmal bis spät in die Nacht wach waren. Jane schrieb und David arbeitete häufig an Berichten oder las in dem ein oder anderen Buch aus der örtlichen Bücherei. Als Jane hereinkam schloss er das Buch in dem er gelesen hatte. Neben den Überreste eines späten Essens standen ein Glas Leim und ein Pinsel dessen Borsten noch feucht und verklebt waren. David drehte sich auf dem Stuhl zu Jane herum. Gähnend warf er einen Blick auf seine Taschenuhr, ein altes Stück das schon seinem Vater gehört hatte.

“Meine Güte schon so spät”, sagte er überrascht. “Willst du nicht langsam ins Bett gehen?”

Jane, die den Umschlag noch fest in den Händen hielt, war zu ihm herübergekommen und setzte sich auf die große Aussteuertruhe unter dem Fenster. Sie antwortete nicht.

Fragend hob David eine Augenbraue. Dann bemerkte er den Umschlag und seine Augen wurden groß. Er lehnt sich in dem Stuhl zurück und sah zu seiner Frau.

“Sag bloß du hast ihn noch nicht geöffnet”, sagte er entrüstet.

Jane schüttelte den Kopf.

“Wann war er denn in der Post?”

“Erst heute. Eigentlich wollte ich ihn ja gleich öffnen, aber irgendwie habe ich ihn vergessen und dann fehlte mir vorhin der Mut dazu.”

“Von wegen vergessen”, murrte David und stand auf um sich neben Jane zu setzen. Sie sahen sich schweigend einen Augenblick an.

“Du weißt, ich würde die ganze Nacht hier mit dir sitzen wenn es denn nötig wäre. Aber das ist furchtbar unbequem und man bekommt auch schnell kalte Füße. Also warum tust du uns nicht beiden einen Gefallen und öffnest diesen Umschlag jetzt. Wo wir doch eigentlich beide Wissen, dass sie dein Buch drucken werden.”

Jane schüttelte nur den Kopf.

Seufzend streckte David seine langen Beine aus und verschränkte die Arme vor der Brust. Eine Minute schwiegen sie sich an, dann sagte er: “Vermutlich hast du Recht. So gut war es auch gar nicht. Ich meine, es war schon ganz in Ordnung, aber mehr auch nicht. Jetzt kann ich es dir ja sagen, wo sie dich eh abgelehnt haben.”

Jane warf ihm einen scharfen Blick zu.

“Red keinen Unsinn. Es ist gut, vielleicht sogar sehr gut und mit Sicherheit besser als das was-”

Aber David unterbrach sie. “Stimmt, also tu uns beiden einen Gefallen und mach den Umschlag endlich auf.”

Während er das sagte, hatte er das Papiermesser vom Schreibtisch genommen und hielt es nun Jane hin, die es mit gerunzelter Stirn entgegennahm. Unsicher drehte sie den Umschlag um. Sie zögerte noch einen Moment und schlitzte den Brief dann entschlossen auf. Zum Vorschein kam eine kleinere Mappe die jemand verknotet hatte und ein zusammengefaltetes Blatt. Wortlos reichte sie David die Mappe und entfaltete mit zitternden Fingern den Brief.

Sehr geehrter Mr. Finnigan,

wir freuen uns Ihnen mitteilen zu können, dass wir an der Veröffentlichung ihres Buches sehr interessiert sind. Das Manuskript haben wir, wie von unserem Kollegen Edwards vorgeschlagen, einbehalten. Anbei erhalten sie einen Entwurf des Vertrages.
Selbstverständlich werden Sie ihn noch einmal mit Conrad durchgehen wollen. Daher haben wir auch ihm gleich eine Kopie zukommen lassen.
Sobald der Vertrag unterzeichnet ist, sollten wir uns zu weiteren Absprache idealerweise einmal persönlich treffen.

Mit freundlichen Grüßen,

C. H. Wellings


Jane sah auf. In ihrem Magen war so eben ein kleines Feuerwerk explodiert. Ungläubig starrte sie auf den Brief und las ihn noch zwei weitere Mal. Sie brachte kein Wort heraus. Behutsam nahm ihr David das Blatt aus der Hand. Während er es las, starrte Jane immer noch ungläubig in die Dunkelheit.

“Na also”, sagte David zufrieden und warf ihr einen Blick zu in dem Freude und vielleicht auch eine Spur Stolz lagen. “Und du wolltest das Manuskript ein halbes Jahr lang nicht abschicken weil du dachtest es taugt nichts.”

Aber Jane hörte ihm gar nicht richtig zu. Sie lächelte glücklich. Kleine Grübchen hatten sich in ihre Wangen gegraben und ihre Augen strahlten. Natürlich hatte sie immer gewusst, dass ihre Arbeit etwas taugte. Sie machte ihr Freunde und Jane selbst war ihre eifrigste Kritikerin. Und auch ohne die Veröffentlichung eines Buches war sie schon sehr erfolgreich. Regelmäßig kamen bei ihrem Verleger Einladungen an, die sie jedoch immer ablehnte. Schließlich schrieb keine Mrs. Jane Finnigan, Lehrerin aus Boston, diese Geschichten von Mord und schlimmeren, sondern ein gewisser Quentin. Conrad Edwards, ihr Verleger und Freund ihres Vaters, hatte ihr gleich zu Beginn die harte Wahrheit gesagt: “Niemand will Kriminalgeschichten lesen, die eine Frau geschrieben hat. Es gibt wenig das als so unweiblich verstanden wird, wie der Tod.” Jane hätte ihn nur zu gern darauf hingewiesen, dass Frauen vom Sterben und Überleben mehr verstanden als ihre Männer. Aber sie hatte es nicht getan. Sie kannte Mr. Edwards seit sie klein war und er hatte sie immerhin nicht ermuntert sich doch lieber in der Frage zu verlieren wozu Stolz und Vorurteil ein verliebtes Paar treiben mochten. Also hatten sie sich für ein Synonym entschieden, was üblich war. Und es blieb dabei, dass man Quentin Finnigan einlud und feierte und Jane Finnigan in ihrer
Schule saß und die Zeitungen nach Ideen für neue Verbrechen durchforstete.
Jane sah auf. Ein Stein war in ihren Magen gesunken und das Lächeln auf ihren Lippen erstarb ein wenig.

“Er schreibt, wir sollten uns am besten einmal persönlich treffen”, sagte Jane entmutigt.

“Damit war doch zu rechnen. Ist dir klar was das kostet ein Manuskript immer wieder mit Anmerkungen hin und her zu schicken quer über den Atlantik?”

Sie schüttelte den Kopf und deutete auf die Anrede die der Verleger benutzt hatte. “Mr. Finnigan, David, Mr. … der Mann hat doch keine Ahnung, dass er in Wahrheit die Geschichte eine Frau gekauft hat.”

David zuckte mit den Schultern. “Nun, das wird er wohl spätestens erfahren wenn du dich mit ihm triffst.”

Jane sah ihn niedergeschlagen an.

“Jetzt hör mir mal zu, ihm gefällt deine Arbeit so sehr, dass er dir sofort einen Vertrag zugeschickt hat. Ein Vertrag mit großzügigen Konditionen, könnte ich hinzufügen.” Erst jetzt bemerkte Jane, dass er den zweiten Umschlag entknotet und den Vertragsentwurf bereits überflogen hatte. “Dem Kerl wird egal sein wer für ihn schreibt, solange es sich verkauft und das wird es!”

Ohne ein Wort zu erwidern, griff Jane nach den Seiten in Davids Hand und begann den Vertrag zu lesen. Auf den ersten Blick bemerkte sie nichts besonderes. Aber es stimmte, dass die angebotene Summe bei Veröffentlichung sich sehen lassen konnte.

Als sie geendet hatte, war ihr wieder ein wenig wohler zumute. David war in der Zwischenzeit aufgestanden und räumte die Bücher in denen er gelesen hatte bei Seite. Einen Moment dachte Jane noch nach, dann sagte sie: “Das heißt, wir werden nach London reisen müssen.”

David lachte. “Ich nehme es an. Er wird wohl kaum zu uns kommen.”

Jane schwieg wieder.

“Aber wo ist das Problem? Edwards wird dir schon sagen können wie lange wir für die Reise einplanen müssen. Ich kann dir allerdings nicht versprechen, dass wir vor dem neuen Jahr dazu kommen werden einen Termin festzusetzen”, sagte David und rieb sich unschlüssig den Nacken. “Vor Januar sind keine Manöver angesetzt und es gibt keinen Grund, dass sich daran etwas ändern sollte. Aber ich habe selbst noch einiges zu erledigen.”

Nachdenklich starrte er aus dem Fenster in die Nacht. Aber Jane achtete nicht darauf, sie war gerade viel zu sehr in den praktischen Problemen ihres Vorhabens vertieft.

“Kannst du es dir überhaupt erlauben für ein paar Wochen zu verreisen?”

“Jetzt gerade mit Sicherheit nicht, sowas muss mit meinem Vorgesetzten abgesprochen werden”, antwortete David mit deprimierenden Ehrlichkeit. Dann fuhr er mit einem Lächeln fort: “Aber du könntest natürlich auch allein reisen, wenn du willst.”

Jane sah ihn ungläubig an, als ob er erklärt hätte Weihnachten sei vorverlegt worden.

“Deine Mutter wird die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, aber wieso denn eigentlich nicht. Du brauchst mich ohnehin nicht und es besteht nicht die Gefahr, dass ein unvorhergesehener Einsatzbefehl unsere Reisepläne über den Haufen wirft. Was meinst du?”

“Klingt fantastisch”, sie schenkte David ein freudiges Lächeln. Er wusste, dass Jane gerne öfter reisen würde, wenn es ihr Leben denn zugelassen hatte. Vielleicht war ihm dies sogar bewusster als ihr. Jane war zu praktisch veranlagt als dass sie einen Luxus wie eine Reise auf den Kontinent ohne einen triftigen Grund überhaupt in Erwägung gezogen hätte.

Und es stimmte, sie brauchte David für diese Reise tatsächlich nicht. Im Gegensatz vielen anderen Männern war er geradezu modern wenn es darum ging sich nicht in ihre beruflichen Belange einzumischen. Auch wenn sie alles miteinander besprachen so wusste Jane doch, dass sie selbst immer das letzte Wort hatte wenn es um ihre eigenen Angelegenheiten ging. Anders wären sie auch nicht so gut miteinander ausgekommen wenn David mehrere Wochen zur See blieb. Jane vermisste ihn jedes Mal und sie konnte es weniger gut verstecken als sie glaubte, aber das Leben ging weiter. Entscheidungen mussten getroffen werden. Wenn David auf See war, hatte sie freie Hand. Sie war selbstständig genug um alleine zurechtzukommen und er klug genug um zu begreifen, dass selbstständige Frauen nicht damit aufhörten selbstständig zu sein, wenn ihre Männer nach Hause kamen.

Jane stand auf, den Brief aus London immer noch in der Hand. Sie wollte ihn gar nicht mehr loslassen. Ihr Verstand hatte schon zu arbeiten begonnen. Es gab so viel vorzubereiten, bevor sie überhaupt daran denken konnte einen Termin für die Reise festzusetzen. Sie würde mit ihren Kollegen sprechen müssen und mit der alten Mrs. Hughes, die stets die Vertretung für schwangere Lehrerinnen übernahm. Vermutlich konnte sie auch einige Wochen für Jane einspringen. Allzu lange sollte sie wohl nicht damit warten. Andererseits würde Jane keinesfalls vor Weihnachten verreisen wollen. David war erst seit ein paar Tagen zurück und würde jetzt erst einmal an Land bleiben. Sie hatten sich also viel zu lange nicht mehr gesehen und da gab es natürlich auch noch die College Vorbereitungen die im März beginnen würden. Jane konnte nicht guten Gewissens dann verreisen wenn die Zukunft der älteren Schülern auf dem gewissen Stand. Was den zusätzlichen Nachmittagsunterricht anging, war es nicht so einfach einen geeigneten Vertreter zu finden und außerdem-

“Beth, hörst du mir eigentlich zu?”

Jane zwinkerte und strich sich über die Augen. David stand vor ihr und sah stirnrunzelnd zu ihr herunter.

“Offensichtlich nicht”, seufzte er leise und schüttelte belustigt den Kopf.

“Entschuldige”, sagte Jane betreten. Sie konnte spüren wie ihre Wangen vor Aufregung glühten. “Ich war ein wenig in Gedanken.”

“Was du nicht sagst”, er fasste sie behutsam an den Armen. “Jetzt hör mir mal zu, wir haben genug Zeit das in Ruhe zu überdenken. Es steht kein Manöver an. Also zerbrich dir den Kopf nicht mehr als unbedingt nötig.”

Jane nickte. “Ich sollte ins Bett.”

“Gute Idee”, sagte David und ließ sie los. “Ich werde wohl gleich nachkommen.”

Als Jane allein im Bett lag und an die Decke starrte, konnte sie keinen Schlaf finden.In ihrem Kopf summte es. So lag sie noch eine ganze Weile wach, beschäftigt mit ihren eigenen Gedanken. Es wurde immer später. Und als sie zwei Stunden später endlich einschlief, drang immer noch Licht aus dem Arbeitszimmer.
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BeitragThema: Re: Vorgeschichte - Boston November 1894   Vorgeschichte - Boston November 1894 I_icon_minitimeMi Okt 18, 2017 11:53 pm

III

Als Jane am nächsten Morgen früh erwachte, war der Platz im Bett neben ihr leer. Einen Moment blieb sie mit geschlossenen Augen liegen und horchte in die Stille des Hauses hinein. Es war Samstag. Sie konnte David unten bereits herumlaufen hören. Seine schweren Schritte auf den Holzdielen hallten bis zu ihr herauf. Draußen war die Sonne noch nicht aufgegangen, aber es war ja auch schon November. Jane schwang die Füße schwungvoll aus dem Bett und zog sich rasch einen blauen Morgenmantel gegen die Kälte über. Sie warf einen kurzen Blick ins Arbeitszimmer. Es war leer.

David hatte die Überreste seiner Arbeit sorgfältig fort geräumt. Wenn einmal militärische Unterlagen oder Karten mit nach Hause brachte, bewahrte er sie in den abschließbaren Schubladen des Sekretärs auf. Den Schlüssel trug er stets bei sich.

Am Anfang hatte Jane sich darüber gewundert. Es hatte ihr nicht gefallen und es war eine der ersten Auseinandersetzungen gewesen, die sie mit David gehabt hatte. “Aber das ist unser Haus”, hatte sie empört eingewandt, als er ihr erklärte was er vor hatte. “Schließ die Sachen meinetwegen weg wenn du unbedingt willst, aber wieso sollte ich keinen Schlüssel zu einer Schublade haben, die in unserem-”
“Jane, es hat überhaupt nichts mit dir oder uns zu tun”, hatte David unnachgiebig erwidert. “Aber ich darf militärische Aufzeichnungen nicht für Zivilisten zugänglich aufbewahren. Das sind nun einmal die Regeln und zwar aus gutem Grund.”

“Ich bin kein Zivilist, sondern deine Frau!”

“Richtig, du bist meine Frau und kein Soldat! So arbeitet das Militär nun mal.”

In den letzten fünf Jahren hatte Jane einiges darüber gelernt wie das Militär arbeitete. Sie hatte sich mit vielem arrangiert. Mit der Zeit war das Verständnis gekommen. Es gab einfach Dinge über die er mit ihr nicht reden durfte. Was das anging hatte sie nach fünf Jahren Ehe einen wahren Gleichmut entwickelt. Sie stellte ihm keine Frage oder bedrängte ihn. Und es war auch nicht so, dass David sie über seinen Leben auf See vollkommen im Dunkeln ließ. Ganz im Gegenteil er erzählte sehr gern Geschichten und seine Briefe waren meist lang.

Jane fand David in der Küche. Er saß am Tisch über eine Seekarte gebeugt, die er bei ihrem Eintritt rasch ein rollte.

“Guten Morgen”, sagte er lächelnd.

Aber Jane runzelte besorgt die Stirn als sie ihn sah. David hatte tiefe Ringe unter den Augen und er trug sein Hemd vom Vorabend. Schweigend ging sie hinüber zum Ofen, wo er noch nicht mal ein Feuer entfacht hatte. Hinter sich konnte sie das Rücken des Stuhls hören und einen Augenblick später schlug die Hintertür zu. Kurz darauf kam David wieder herein, ein paar Holzscheite unter dem Arm. Er entzündete das Feuer während Jane die kleine Emaillekanne mit Wasser füllte und auf den Ofen stellte. Dann wandte sie sich zu ihrem Mann um und musterte ihn kritisch.

David setzte sich wieder an den Tisch und grinste: “Habe ich etwas verbrochen, Frau Lehrerin?”
Aber Jane lachte nicht. Sie machte sich Sorgen um ihn.

“Wann warst du gestern im Bett?”, fragte sie und achtete sorgsam darauf jeden Vorwurf aus ihrer Stimme zu verbannen. “Du siehst furchtbar aus, David.”

“Danke, das hört man gern.”

Jane hob eine Augenbraue und verschränkte die Arme vor der Brust. Eine Geste die zeigte, dass sie gerade nicht für seine üblichen Scherze aufgelegt war. Seufzend schob David die Karte zur Seite und sah seine Frau an.

“Ich hatte keine sehr erholsame Nacht”, gab er verdrossen zu.

Auch Jane seufzte. Sie ging um den Tisch herum und legte ihrem Mann eine Hand auf die Schulter. Als David sich zu ihr drehte, strich Jane zärtlich durch sein dunkles Haar. Aus der Nähe sah er nicht besser aus. Jetzt wo sie darüber nachdachte, glaubte sie sich zu erinnern, dass er jede Nacht in dieser Woche weit nach ihr ins Bett gekommen war. Zwar waren sie beide gerne bis spät in die Nacht wach, aber normalerweise schlief wenigstens David dann am nächsten Morgen aus.

“Was war los?”, fragte Jane besorgt.

David zuckte die Schultern. “Vielleicht ist es der Mond. Ich schlafe zur Zeit einfach nicht gut, Jane. Das ist alles.”

Stirnrunzelnd erwiderte Jane seinen Blick. Das war nicht alles. Sie wusste nicht warum, aber irgendwie hatte sie das bestimmt Gefühl, dass er diesmal nicht die Wahrheit sagte. Es war wie ein leichtes Ziehen in ihrem Kopf. Ein Echo seiner Stimme, das sagte: Mach ihr bloß keine Sorgen. Irritiert strich Jane sich über die rechte Schläfe und schloss die Augen.

Sie hörte wie David aufstand. “Jane?”

Aber Jane antwortete nicht. Sie wollte, dass dieses Ziehen in ihrem Kopf aufhörte. Nach einem Moment war es vorbei. Als sie die Augen öffnete, sah sie, dass David gleich vor ihr Stand und sie sehr besorgt ansah.

“Ich dachte nur, du hättest etwas gesagt”, murmelte Jane leise. Wieder strich sie sich über die pochende Schläfe. Aber David schüttelte nur den Kopf und nahm sie in den Arm. “Ist schon gut”, sagte er leise. Hin und wieder geschah soetwas. Dann war da ein Gedanke in ihrem Kopf der sich fremd anfühlte. David wusste es. Jane hatte ihm sehr früh davon erzählt. Als Kind hatte sie manchmal sogar geglaubt verrückt zu werden. Heute dachte Jane das eigentlich nicht mehr. Aber es machte ihr doch Angst wenn es geschah. Auch wenn David schwor, dass einfach ihre allzu lebendige Phantasie dafür verantwortlich sein musste.

Einen Moment ließ sie sich noch von David halten. Behutsam löste Jane sich dann aber aus der Umarmung und sah ihren Mann an. Noch während sie überlegte, ob sie noch etwas sagen sollte, kam er ihr zuvor.

“Lass uns einfach frühstücken”, drängte David. Lächelnd gab er ihr einen Kuss auf die Stirn. “Ich gehe mich nur rasch umziehen.”

Jane nickte, erwiderte aber nichts. Besorgt sah sie ihm nach. Ihr Blick fiel auf die Karte, die er auf dem Tisch liegen gelassen hatte und für einen Moment war sie fast in Versuchung sie zu entrollen um zu sehen was er sich so früh am Morgen angesehen hatte. Aber Jane tat es nichts. Seufzend räumte sie die Karte beiseite und griff nach der Dose mit dem gemahlenen Kaffee.

Als sie gefrühstückt hatten, zog auch Jane sich um. David war gleich wieder nach oben gegangen und saß schon wieder über seiner Arbeit. Jane hätte gern das selbe getan. Auf dem Esstisch lag ihr Manuskript und als sie es sah, war Jane arg in Versuchung sich einfach eine Tasse Kaffee aus der Küche zu holen und die Arbeit vom Vorabend fortzuführen. Aber es ging nicht. Seufzend griff Jane nach dem Stapel Hefte der Schulwoche und begann die Aufsätze ihrer Schüler zu korrigieren. Die Aufgaben waren von Schülern aus den unteren Jahrgängen angefertigt worden und daher nicht allzu anspruchsvoll. Doch umso mehr Aufmerksamkeit erforderte es all die kleinen Fehler zu entdecken und zu korrigieren. An diesem Morgen fiel Jane die Arbeit ungewöhnlich schwer. Immer wieder wanderten ihre Gedanken zu dem Manuskript und dem Brief der oben in einer Schublade auf eine Antwort wartete. Zum ersten Mal musste Jane sich eingestehen, dass es vielleicht alles ein wenig zu viel für sie wurde. Fünf Tage in der Schule, den Unterricht vorbereiten und die Aufgaben korrigieren, der Haushalt - wenn man mal von der Wäsche absah, die ein Mädchen aus der Nachbarschaft für kleines Geld erledigte - und das Schreiben. Sie sah zu den Fenstern die mal wieder hätten geputzt werden können und zu den Heften die sie bis Montag noch durchsehen musste. Vielleicht konnten sie morgen wenigstens die Messe ausfallen lassen, überlegte Jane zweifelnd. David würde ausschlafen können, was er dringend nötig hatte und sie könnte wenigstens einen Teil der Schularbeit morgen erledigen.

Das Knallen einer Tür riss Jane aus ihren Gedanken. Erstaunt sah sie zur Decke hoch, wo jetzt die unverkennbar schweren Schritte von Soldatenstiefeln zu hören waren. Stirnrunzelnd sah Jane zur Treppe hinüber. Wenige Augenblicke später kam David die Treppe herunter geeilt.

“Wo willst du denn hin?”, fragte Jane verwirrt und sah ihm jetzt dabei zu wie er die Weste seiner Uniform zu knöpfte. David warf ihr nur einen kurzen Blick zu.

“Zur Kaserne. Hast du meinen Rock gesehen?”

“In der Küche”, sagte Jane und zog das nächste Heft zu sich heran. Seufzend schlug sie es auf, den Füller mit der roten Tinte schon griffbereit. Aus dem Augenwinkel sah sie wie David nickte und an ihr vorbeiging.

“Soll ich mit dem Abendessen auf dich warten?”

“Nein, besser nicht. Es könnte spät werden.”

Schwungvoll strich Jane das Wort Massachusits durch und schrieb kopfschüttelnd eine Korrektur darüber.

Als David wieder ins Wohnzimmer kam, hatter er den Rock aus schwerer dunkler Wolle bereits übergeworfen und richtete sein Halstuch. Jane warf ihm einen leicht missbilligenden Blick zu. Aber es kam nicht oft vor, dass er so ohne Vorankündigung an einem Samstag das Haus verließ. David hatte ihre Blick offenbar bemerkt, denn er kam zu ihr herüber und lächelte entschuldigend.

“Ich mach’s wieder gut”, sagte er zerknirscht.

Seufzend legte Jane den Stift bei Seite und lehnte sich in ihrem Stuhl ein wenig zurück. Sie schüttelte den Kopf.

“Ist schon gut. Ich stecke ja selbst noch bis über beide Ohren in Arbeit.”

David schmunzelte, sagte aber nichts. Einen Moment sah er sie schweigend an, dann beugte er sich herunter und gab ihr einen Kuss. Jane erwiderte ihn zärtlich. Dann lösten sie sich schon wieder voneinander.

“Bis heute Abend”, sagte sie lächelnd. David nickte. Und als Jane sich wieder über den Aufsatz beugte, hörte sie wie Haustüre hinter ihm laut ins Schloss fiel.
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BeitragThema: Re: Vorgeschichte - Boston November 1894   Vorgeschichte - Boston November 1894 I_icon_minitimeMi Okt 25, 2017 12:18 am

IV

Die Uhr in der Küche ging bereits auf Mitternacht zu. Der Duft von frisch gekochtem Kaffee hing in der Luft und im Ofen prasselte ein Feuer. Jane saß am Küchentisch, tief über ihr Manuskript gebeugt. In der kleinen Küche herrschte eine angenehme Wärme. Die Überreste eines hastig zusammen geworfenen Abendessens standen noch auf dem Herd. Einige Locken hatten sich aus Janes Haarknoten gelöst und fielen ihr nun unordentlich ins Gesicht. Mit einer ungeduldigen Geste strich sie sich die Strähnen wieder hinter die Ohren und legte den Füller bei Seite.

Jane warf einen Blick auf die Uhr. Als sie zum letzten mal nachgesehen hatte, war es erst kurz nach neun gewesen. Stirnrunzelnd fragte sich Jane, was denn bitte an einem Samstag passiert sein konnte, dass David so lange in der Kaserne blieb. Vermutlich hatte man ihn kurzfristig zum Dinner bei einem höherrangigen Offizier eingeladen. So etwas kam vor und er bewahrte für alle Fälle immer eine zweite Uniform und einen Anzug in seinem Büro auf. Aber gewöhnlich schickte er dann wenigstens eine Nachricht nach Hause nur damit Jane sich keine Sorgen machte. Andererseits vielleicht hatte es auch eine Besprechung gegeben die sich nun ein wenig länger hinzog und er hatte beschlossen gleich über Nacht zu bleiben. Jedenfalls würde David nun mit Sicherheit erst morgen früh zurückkommen. Jane war das gar nicht recht, wenn sie daran dachte wie übermüdet er heute morgen ausgesehen hatte.

Sie stand auf und goss sich noch eine Tasse Kaffee ein.

Eigentlich war es im Winter immer herrlich ruhig, was hieß, dass David nicht mehrere Wochen auf See verbringen würde. Es gab zwar Lehrgänge, Truppenübungen, anstehende Beförderungen und ähnliches aber die meiste Zeit verbrachte er während der kalten Jahreszeit eigentlich damit dafür zu sorgen, dass Schiff und Mannschaft in einem guten Zustand blieben.

Der Kaffee tat gut. Er belebte Janes Geister die von der Kälte und vom langen Sitzen ermüdet waren. Wieder sah Jane zur Uhr. Es war so spät, dass sie ebenso gut die Haustüre verriegeln konnte.

Als Jane wieder in die Küche kam, ging sie gleich zurück an den Tisch. Das Feuer im Ofen brannte noch. Den Füller in der Hand starrte Jane abwesend durch das kleine Rost in die roten Flammen. Ihre Gedanken waren wieder zurück zu David gewandert. Er war erst seit zehn Tagen wieder zu Hause.
Davids Heimkehr war auf einen der letzten sonnigen Tage im Oktober gefallen. An diesem Nachmittag hatte Jane sich vorgenommen die Fensterrahmen endlich zu streichen. Ein Vorhaben das sich als schwieriger als geplant erwiesen hatte, da ihre beiden Neffen zu Besuch gewesen waren. Dann war auch noch Susan herein gewirbelt und hatte das Chaos vervollständigt.

“Ich verstehe wirklich nicht warum das nicht warten konnte, Jane”, hatte Susan mit in die Seiten gestemmten Hände zu ihr heraufgerufen. Ihre Schwester stand auf den oberen Sprossen einer Leiter.

“Worauf warten? Das Wetter hätte doch nicht besser sein können und die Sonne wird sich sicher noch ein paar Tage halten.”

“Aber das hätte David doch machen können.”

Jane hatte nur den Kopf geschüttelt und sich die Hände an der alten Schürze sauber gewischt.

“Ich habe die Rahmen auch schon letztes Jahr gestrichen, Susan.”

Für eine junge Frau, die sich darüber beschwerte, dass kein Krankenhaus in Boston sie als Ärztin anstellen wollte, konnte ihre kleine Schwester furchtbar altmodisch sein. Susan war gut einen halben Kopf größer als Jane. Beide Schwestern hatten grauen Augen und das haselnussfarbene Haar ihres Vaters geerbt. Aber Susans Züge ähnelten viel mehr denen ihrer Mutter; hohe Wangenknochen, eine kleine Nase und rosige Wangen. Was ihr eine elegantere Erscheinung verlieh, selbst wenn Jane nicht eine Schürze trug und ihre Haare mit einem alten Tuch grob zurückgebunden hatte.

Die beiden Jungen vor dem Haus waren für die beiden Frauen nicht zu sehen, wohl aber vernehmlich zu hören gewesen. Nach einem besonders lauten Schrei hatte Susan sich besorgt umgedreht.

“Willst du nicht mal nach den beiden sehen?”

Aber Jane war nur unbekümmert von der Leiter geklettert und hatte sie einige Meter weiter wieder an die Wand gelehnt. Dem Lärm den ihre beiden Neffen veranstalteten, schenkte sie nicht die geringste Beachtung. Nach fünf Jahren als Lehrerin war sie weitaus schlimmeres gewöhnt.

“Glaub mir, Sorgen muss man sich nur machen wenn sie plötzlich still werden”, sagte Jane weise. “Dann hecken sie wirklich etwas aus.”

Wie um den Worten ihrer Tante Gewicht zu verleihen war der Lärm den die beiden Jungen veranstalteten wenige Minuten später abgeebbt. Jane war nicht gleich nachsehen gegangen. Als von den Jungen jedoch nichts mehr zu hören gewesen war, für gewöhnlich ein sicheres Anzeichen dass sie sich weiter vom Haus entfernten als Jane lieb war, war sie seufzend von der Leiter herunter gestiegen.

Als Jane um das Haus herum kam, hatte sie ihre Neffen nicht gleich entdeckt. Wohl aber das weit aufstehende Tor. Mit einem grimmigen Ausdruck war sie auf die Straße hinaus getreten und hatte sich nach den beiden Jungen umgesehen. In dem Trubel waren sie nicht leicht zu entdecken gewesen. Sie standen bei einem großen Mann, der lächelnd ihren Blick erwiderte.

Jane hatte einen überraschten Laut ausgestoßen und war dann sehr undamenhaft mit gerafften Röcken zu ihnen herüber gelaufen. Lachend hatte sie David umarmt.

“Ich hatte dich nicht vor nächster Woche erwartet.”

“Der Einsatz war früher beendet.”

“Offensichtlich!”

David hatte sie fest an sich gedrückt und die Jungen hatte ihre sonst so zurückhaltende Tante verblüfft angeschaut. Jane erinnerte sich noch genau daran, wie es diesmal gewesen war und wie es sich immer anfühlte wenn sie ihn nach mehreren Wochen wiedersah. Freude war mit purer Erleichterung gemischt. Es war bedeutungslos wie unbegründet ihre Sorgen waren. Jeder Einsatz - und mochte er auch noch so trivial sein - war am Ende gefährlich. Umso erleichterter war Jane, dass es für dieses Jahr der Letzte gewesen war.

Mit diesem Gedanken riss sie ihren Blick vom Feuer los und nahm noch einen Schluck Kaffee. Wenigstens dieses eine Kapitel wollte sie vor dem zu Bett gehen noch überarbeiten.

Am nächsten Morgen in der Kirche rächte sich, dass Jane nicht nur ein sondern drei Kapitel ein weiteres Mal durchgelesen hatte. Sie kam sich vor wie einer ihrer Schüler der versuchte in der ersten Stunde nicht einzunicken. Konzentriert darauf während der Predigt wenigstens einen wachen Eindruck zu hinterlassen, nahm Jane kaum etwas von ihrer Umgebung war. Hätte sie sich in der Kirche umgesehen, wäre ihr aufgefallen, dass sie nicht die einzige Frau war, die an diesem Morgen ohne ihren Mann erschienen war.
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BeitragThema: Re: Vorgeschichte - Boston November 1894   Vorgeschichte - Boston November 1894 I_icon_minitimeMi Nov 01, 2017 9:11 am

V

Als auch der Sonntag verging, ohne dass David nach Hause kam oder wenigstens eine kurze Nachricht eintraf, die sein Ausbleiben erklärte, begann Jane sich zu wundern. Am Montag stand sie natürlich trotzdem pünktlich in ihrem Klassenzimmer. Sie rechnete auch noch fest damit ihn nach der Schule zu Hause anzutreffen. Aber das Haus war leer. Dass Jane damit nicht alleine war, wurde ihr allerdings klar, als es gegen drei an ihrer Hintertür klopfte und eine junge Frau, ein wenig jünger als sie selbst mit freundlichen Grübchen und lustigen schwarzen Löckchen den Kopf herein steckte. Ethel war die Frau von Lieutenant Bernard Leckwith, dem ersten Lieutenant an Bord der U.S.S. Sea Hawk, und gut mit Jane befreundet. Das hatte kaum ausbleiben können, wo sich David und Bernie seit ihrer Anfänge in der Navy kannten. Jane hatte den jovialen, lebenslustigen Bernie Leckwith schon während ihrer Zeit auf dem Radcliff kennengelernt. David hatte, wenn er in Cambridge war, stets bei den Leckwiths gewohnt und als Bernie vor vier Jahren Ethel geheiratet hatte, waren auch die beiden Frauen Freundinnen geworden.

Ethel war um einiges rundlicher als Jane. Ihre Kurven waren auch schon vor der Geburt der Zwillinge vorhanden gewesen, aber nun beschwerte sie sich häufiger darüber, dass ihr die alten Kleider nicht mehr passten. Aber im Grunde stand es ihr gut. Es verlieh Ethel eine gemütliche, mütterliche Aura.

“Tag Ethel”, sagte Jane freundlich und schob die Zeichnung eines Kompasses, die sie für den morgigen Unterricht vorbereitete, gleich bei Seite. Jede Frau in der Straße nahm immer die Hintertür und kam gleich in die Küche. Die Vordertür war für formelleren Besuch vorgesehen.

Ethel trat lächelnd ein und schloss die Tür hinter sich. Da war Jane auch schon aufgestanden und goss frisches Wasser in die Emailkanne.

“Ich dachte, du könntest vielleicht ein wenig Gesellschaft brauchen”, erwiderte Ethel. Sie hatte einen Korb voller Handarbeit mitgebracht, dem Jane nun einen tadelnden Blick versetzte. Es war allgemein bekannt, dass sie Handarbeiten verabscheute. Als sie Janes Blick bemerkte, lachte Ethel.

“Keine Sorge, der ist nur für mich. Du hast sicher selbst etwas zu erledigen.”
Janes Mundwinkel zuckten.

“Eigentlich war ich beinah fertig. Aber lass dich nicht davon abhalten mir meine eigene Unvollkommenheit in Haushaltsdingen vorzuführen.” Aber sie klang dabei eher amüsiert als verärgert.

“Oh das überlasse ich lieber Frauen wie Rachel Lynde.”

Mrs Lynde, die Ältere, galt vollkommen zurecht als die bestinformierteste Person im ganzen Viertel. Während Jane sich einiges auf ihre eigene, wohl durchdachte Meinung einbildete, nahm Mrs. Lynde für sich in Anspruch nie auch nur ein Blatt vor den Mund zu nehmen und immer das auszusprechen was ihr durch den Kopf ging. So nannte sie, die liebe Jane, wie sie es gerne ausdrückte, ein wenig unscheinbar und wenn auch noch so klug, in den weiblichen Tugenden vollkommen überfordert. Trotzdem mochte Jane Mrs Lynde irgendwie. Denn mit ihrer direkten Art teilte sie oft genug dort aus wo es verdient war.

Jane und Ethel setzten sich bei einer Tasse Kaffee zusammen und während Ethel mit der Handarbeit begann, nahm Jane den halb vollendeten Kompass wieder zur Hand.

“Wieso dachtest du eigentlich, ich könnte Gesellschaft brauchen?”, fragte Jane nachdem ihre Freundin zehn Minuten von den neuesten Errungenschaften ihrer Kinder geschwatzt hatte.

Ethel stickte munter weiter. “Na wo David doch seit Samstag fort ist.”

Jane hielt inne und sah auf. “Bernie als auch?”, fragte sie ein wenig überrascht.

“Natürlich. David stand Samstagnachmittag vor unserer Tür und hat ihn abgeholt. Wir wollten eigentlich meine Eltern besuchen. Er hatte Glück, dass er uns noch erwischt hat.”
Jetzt sah auch Ethel auf und musterte den unwissenden Ausdruck auf Janes Gesicht.

“Hat er dir nichts gesagt? Ich dachte ehrlich gesagt, du wüsstest vielleicht was vorgefallen ist.”

Aber Jane schüttelte den Kopf.

“Du weißt genau, dass ich David nicht dazu dränge über militärische Dinge zu sprechen.”
Ethel seufzte und nickte.

“So halte ich es auch.”

Jane verkniff sich ein Lächeln. Ethel hätte ihren Mann nicht einmal gefragt was vorgefallen wäre, wenn er mit blauer Hautfarbe nach Hause käme. Sie hatte das Gemüt eines Schafs. Nicht dumm, aber vollkommen arglos. Jane hatte sich daran gewöhnt, dass die meisten Ehefrauen oder sogar Mütter der Männer in Davids Mannschaft zu ihr kamen. Das war einer der Nachteile daran mit dem Kapitän verheiratet zu sein. Wenn es zu unvorhergesehenen Einsätzen kam oder sich die Rückkehr ihrer Ehemänner und Söhne unerwartet verspätete, hofften sie Jane wüsste mehr als sie selbst. Die Hoffnung war häufig auch nicht vergebens. Für gewöhnlich versuchte David ihr wenigstens eine kurze Nachricht zu schicken, wenn er konnte. Jane war also tatsächlich gut informiert. Aber diesmal nicht.

“Er hat sich am Samstag umgezogen und meinte es würde spät werden, ich solle nicht mit dem Essen warten. Das ist alles.”

Selbst das schien Ethel zu beruhigen, denn sie nickte erleichtert.

“Nun, dann sollten sie ja heute Abend wieder zu Hause sein.”

Aber Jane runzelte nachdenklich die Stirn. Irgendetwas an dieser Geschichte behagte ihr ganz und gar nicht. Ihre Intuition sagte ihr, dass hier etwas mehr vorgefallen sein musste als eine lange Offiziersbesprechung. Die konnte ja auch unmöglich zwei Tage dauern!
Sie ließ ihre Gedanken ein wenig kreisen, fragte sich was David jetzt wohl trieb.

Ethel betrachtete die Angelegenheit offenbar aber damit aber als erledigt. Denn sie goss sich und Jane bereits neuen Kaffee ein. Dabei plauderte Ethel fröhlich über ein Theaterstück, das sie sich alle vier gemeinsam einmal ansehen konnten. Jane konnte sich nicht recht für das Thema begeistern und sah immer wieder auf die Taschenuhr, die sie an einer Kette um ihren Hals trug.

Als sie gerade die zweite Kanne Kaffee aufschüttete, waren endlich Schritte im Garten zu hören. Erwartungsvoll sahen beide Frauen zur Hintertür. Erleichtert dachte Jane daran, dass sie jetzt gleich mit etwas Glück eine Erklärung bekommen würde. Aber als die Tür nach einem kurzen, kräftigen Klopfen aufgeschoben wurde, kam nicht David herein, sondern eine große, drahtige Frau mit einer Geiernase. Mrs Rachel Lynde sah aus als hätte sie eine sehr kurze Nacht hinter sich gehabt. Ihre wachsamen Augen waren von tiefen Ringen gezeichnet. Die beiden jungen Frauen tauschten einen kurzen Blick . Dann sah Jane abwartend zu Mrs Lynde, die nicht lange auf sich warten ließ.

“Ich bestehe darauf mit dem Captain zu reden.”

Jane runzelte die Stirn angesichts dieser förmlichen Anrede. Mrs Lynde wirkte ausgesprochen verstimmt und Jane verschränkte die Arme vor der Brust.

Ethel zog rasch ihre Handarbeit bei Seite um der älteren Dame Platz zu machen. Einen Moment lang sah es so aus als sei Mrs Lynde sich nicht sicher, ob sie sich tatsächlich setzen wolle. Aber ein langer Blick von Jane genügte. Seufzend ließ sich Mrs Lynde nieder und Jane ging hinüber zum Küchenschrank um eine dritte Tasse herauszuholen.

“Dann werden Sie eine Weile warten müssen”, sagte Jane ruhig und goss ihrem unfreiwilligen Gast Kaffee ein. Mrs Lynde hatte ein Art an sich, die einen schon mal dazu bringen konnte seine Manieren zu vergessen.

Mrs Lynde zog die Tasse harsch heran und gab mit Elan zwei Löffel Zucker hinzu. Auch Jane setzte sich wieder an den Tisch und zog ihre eigene Tasse heran, während Ethel zwar die Handarbeit wieder aufgenommen hatte, aber neugierig zwischen ihrer Freundin und der älteren Dame hin und her sah. Jane machte sich erst gar nicht die Mühe eine Frage zu stellen, die Antworten würde von allein kommen.

Tatsächlich nahm Mrs Lynde nur einen kurzen Schluck Kaffee ehe sie fortfuhr.

“Eliza Jenkins hat gestern Nacht ihr Kind bekommen”, sagte Mrs Lynde, durch den Kaffee ein wenig gnädiger gestimmt. Ethel stieß einen kleinen Freudenschrei aus und auch Jane lächelte glücklich. Wenigstens erklärte das weshalb Mrs. Lynde so übermüdet aussah. Sie hatte mehr Kinder in diesem Viertel zur Welt gebracht als der nächste Arzt.

“Glückwunsch! Ich hoffe doch, es ging alles gut”, sagte Ethel besorgt.

“Ganz und gar nicht, meine Liebe. Ich musste sogar Doctor Baker kommen lassen. Um ehrlich zu sein, sah es sehr lange so aus als würde sie es nicht überstehen.”

Jane spürte wie ihr kalt wurde. Die Jenkins hatten bereits zwei Kinder verloren. Sam Jenkins war in Davids Mannschaft, aber er zählte nicht zu den Offizieren. Mrs Lyndes ältester Sohn Robert war erst vor wenigen Monaten als Navigator dazu gestoßen. Die Welt der Ehefrauen, Mütter und Schwester war eben klein. Man wuchs rasch zusammen, wenn man gemeinsam auf die Rückkehr eines Schiffes wartete.

“Die arme Mrs Jenkins”, keuchte Ethel.

Mrs Lynde nickte.

“Ich dachte wir würden beide verlieren und dass Sam nicht dort war, hat es nicht leichter gemacht. Natürlich hat er als Mann im Geburtszimmer nichts zu suchen - aber was wäre wenn sie es nicht überstanden hätte?”

Sie sah nun zu Jane und runzelte anklagend die Brauen.

“Darüber muss ich im Übrigen mit dem Captain reden!”
Doch bevor Jane etwas sagen konnte, kam Ethel ihr zuvor. Und vielleicht war das gut, denn der Ton mit dem Mrs Lynde David bedachte, gefiel Jane nicht.

“Was hat denn David damit zu tun?”

“Am Samstag Abend gegen zehn Uhr hat er die ganze Mannschaft zusammenkommen lassen.”

Jane und Ethel tauschten einen überraschten Blick miteinander. Das konnte Mrs Lynde natürlich nicht entgehen, die verblüfft zu den beiden jüngeren Frauen sah.

“Sag bloß ihr habt das beide nicht gewusst?”

“Nein”, gab Ethel zu und ließ jetzt tatsächlich ihre Handarbeit sinken. “Bernie ist am Samstag gemeinsam mit David zur Kaserne. Aber ich dachte nur die Offiziere-” Sie ließ den Satz unbeendet. Fragend sah sie Jane an, die weiterhin schweigend an ihrem Platz saß.

“Oh nein, meine Liebe, die ganze Mannschaft ist noch am Samstag zusammengerufen worden. Nun wie dem auch sei, gegen kurz nach Mitternacht kommt also Eliza Jenkins Schwester und reißt mich aus dem Schlaf weil das Baby kommt. Also bin ich gleich mit ihr zu den Jenkins gegangen und hab ihr gesagt, sie soll ihren Sohn zur Kaserne schicken damit er Sam Bescheid gibt. Ein Mann sollte wissen, wenn seine Frau im Kindbett liegt. Jedenfalls hatte ich mir Eliza genug zu tun, aber dann kommt der Junge wieder und sagt man hätte Samuel nicht mit ihm gehen lassen! Schön und gut, dachte ich mir, wenn die Männer eben besseres zu tun haben, hier wären sie ja ohnehin nur im Weg.”

Sie machte nur kurz Pause um einen Schluck Kaffee zu nehmen und fuhr dann sogleich mit ihrer Geschichte fort.

“Aber als es dann aussah als würden wir Eliza und das Kind verlieren da habe ich den Jungen noch einmal zur Kaserne geschickt. Jamie Jenkins, habe ich gesagt, Jamie und diesmal lässt du dich nicht abweisen! Mach diesen Holzköpfen klar wie ernst die Lage ist und wenn sie Sam nicht rausschicken, dann verlang den Captain persönlich zu sprechen.”
Hier fiel Mrs Lynde Blick auf Jane.

“Das hat allerdings auch nichts gebracht! Weder Samuel noch dein David haben sich am Tor blicken lassen. Jedenfalls kam Jamie alleine zurück und wir hatten Glück, dass wenigstens der Herr Gott Erbarmen hatte und es Mutter und Kind gut geht.”

“Samuel muss überglücklich sein”, begann Ethel lächelnd, aber Mrs Lynde fiel ihr harsch ins Wort. “Er hat den Jungen doch noch nicht mal gesehen! Seit Samstag ist er in der Kaserne und wird nicht nach Hause geschickt. Ich war heute Morgen selbst dort und habe verlangt ihn zu sehen. Mich wollte man auch abweisen, also bestand ich darauf mit deinem David zu reden, Jane. Und als ich ein weniger lauter wurde, sagte man mir, dass er nicht da sei.”

“Was soll das heißen, er ist nicht da?”, fragte Jane perplex. Aber Mrs. Lynde überging sie.

“Ich habe ja Verständnis für das Militär. Immerhin war ich selbst beinah vierzig Jahre mit einem Captain verheiratet. Aber was kann denn während des Landurlaubs so wichtig sein, dass ein Mann nicht zu seiner Frau im Kindbett gelassen wird?”

“Mrs Lynde”, sagte Jane bedächtig. “David wird für sein Verhalten einen guten Grund gehabt habe.”

“Zu meiner Zeit hatte man als befahlshabender Offizier sich noch um seine Mannschaft-”

“Wollen Sie damit andeuten, dass mein Mann seine Pflichten gegenüber seinen Untergebenen vernachlässigt?”

Der ruhige Ton um den Jane sich eigentlich bemüht hatte, begann zu bröckeln. Sie hatte die Hände auf dem Tisch gefaltet und warf Mrs Lynde einen glühenden Blick zu.
Mrs Lyndes großer Busen hob und senkte sich schnell.

“Der Gedanke kam mir durchaus! Tut mir leid, Jane, aber ich habe kein Verständnis für sein Verhalten. Wie kannst du ihn da auch noch in Schutz nehmen?”

“Ich nehme niemanden in Schutz”, antwortete Jane gereizt. Aber ihr war selbst bewusst, dass sie sich etwas vormachte. “Allerdings finde ich es unehrlich jemanden zu verurteilen, der nicht einmal die Gelegenheit hatte sich zu verteidigen.”

“Immerhin bin ich hergekommen um die Sache mit ihm zu klären!”

Jane nickte knapp. Das stimmte wenigstens. Mrs Lynde hätte ebenso gut durch die halbe Nachbarschaft rennen können. Auch Jane fand Davids Entscheidung seinen Matrosen unter diesen besonderen Umständen nicht nach Hause zu schicken befremdlich. Aber das würde sie jetzt keinesfalls zugeben. Sie konnte auch Mrs. Lyndes Entrüstung über die ganze Angelegenheit verstehen. Aber trotzdem würde Jane David nicht in den Rücken fallen in dem sie dieser Klatschbase nun auch noch recht gab.

“Ich sage es nochmal, mein Mann gibt einen solchen Befehl nicht grundlos. Und solange wir seine Motive nicht kennen, ist es müßig darüber zu streiten.”

“Trotzdem ist es sehr verantwortunglos. Jane, er muss doch-”

Doch diese schnitt ihr jetzt ungewohnt scharf das Wort ab. “Mrs Lynde, David muss überhaupt nichts!”

Empört sah die ältere Dame zu Jane. Auf ihren Wangen brannte es jetzt. Sie war es nicht gewohnt, dass man in diesem Ton mit ihr redete. Aber Jane erwiderte ihren Blick fest.
“Er ist der Offizier. Es ist seine Entscheidung, wann ein Matrose seinen Posten verlassen kann und wann eben nicht. Weder Ihnen, noch mir, noch irgendeinem anderen steht es an diesen Befehl in Frage zu stellen.”

Nach diesen Worten breitete sich ein unangenehmes Schweigen in der Küche aus. Ethel, die schweigend daneben gesessen hatte, sah abwechselnd zwischen den beiden Frauen hin und her. Mrs Lyndes Wangen waren immer noch von roten Flecken überzogen. Ihr fehlten tatsächlich die Worte. Schließlich stand sie wortlos auf und verließ mit einem theatralischen Nicken zu Ethel gewandt die Küche.

Einen Moment hallte ihr Weggang noch nach. Keine der beiden zurückgebliebenen Frauen rührte sich. Dann legte Jane die Hände vor ihr Gesicht und schüttelte ungläubig den Kopf. Sie konnte das Kratzen von Stuhlbeinen hören. Ethel war aufgestanden und machte sich in der Küche zu schaffen. Schließlich schob sie Jane eine Tasse Tee zu.

“Der hast du es aber gegeben”, sagte sie und konnte dabei ein Schmunzeln nicht unterdrücken.

Unglücklich ließ Jane die Hände sinken.

“Ich hätte nicht die Beherrschung verlieren sollen.”

Ethel zuckte mit den Schultern.

“Nein, vielleicht nicht. Aber Mrs Lynde kann einen schon ganz schön auf die Palme bringen, wenn ich das so sagen darf.”

Jane nickte und nahm einen Schluck des Tees, den Ethel aufgegossen hatte. Schweigend starrte sie in ihre Tasse.

“Seltsam ist es allerdings schon, wenn du mich fragst. Es passt so gar nicht zu ihm.”
Wieder nickte Jane. Als Offizier war David eigentlich sehr beliebt. Und das nicht zuletzt deswegen weil er sich sehr um den Zusammenhalt in seiner Mannschaft bemühte. Ein guter Kommandant gibt nicht nur die richtigen Befehle, hatte Jane ihn einmal zu Bernie sagen hören. Er weiß was Verantwortung heißt. Du und ich sind für die Männer unter unserem Kommando verantwortlich. Jane wusste, was David unter Verantwortung verstand. Und die endete für ihn nicht wenn seine Männer das Schiff verließen.

Jane warf einen Blick auf ihre Uhr. Es war jetzt schon fast fünf. Die Unruhe die sie vor Mrs Lyndes Besuch gespürt hatte, flammte wieder in ihr auf. Dass David am Samstag seine ganze Mannschaft noch zur Kaserne beordert hatte, dämpfte Janes Sorgen nicht. Eine einfache Übung konnte es nicht sein. Dann hätte er Jenkins doch einfach gehen lassen können.

Wieder sah Jane zur Uhr.

Dann beschloss sie ihm noch eine Stunde zu geben. Wenn David bis sechs nicht zu Hause war, würde sie sich ihr Rad nehmen und selbst schauen wo er abgeblieben war.
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